Wikingeranästhesie

Teil 3

E. Opioidbedarf

Daß man auf volatile Inhalationsanästhetika verzichten kann, ist nichts neues. Daß dies bei einer minimalen Gabe von Fentanyl erreicht werden kann (0,1-0,2 mg gesamt bei den meisten Operationen, höchstens 0,3 mg bei Patienten, die auf Normalstation zurückgehen), wird mehrheitlich von den Anästhesisten als Ausdruck einer schlechten Technik verstanden. Diese Dosis unterschreitet oft das, was als mini-male Dosis mit Inhalationsanästhetika zusammen verstanden wird. Die neuen Erkenntnisse der Eliminationshalbwertszeit von Fentanyl (213 min gegenüber früheren Erwartungen von 20-30 min) ist fast spurlos um den Anästhesisten vorbeigegangen. Hingegen hat der silent death auf Station nach s.g. "Neuroleptanalgesie" mit 0,4 mg Fentanyl und mehr durchaus Spuren hinterlassen. Diese führen allerdings gegen die NLA bei Patienten, die wegen weitgehender Schmerzlosigkeit erwartungsgemäß nicht auf die Intensivstation aufgenommen werden.

Man kann den Opioidbedarf während einer Anästhesie nicht messen, genausowenig wie die Anästhesietiefe selbst. Zu viele Faktoren können einen Einfluß auf die Herzfrequenz und den Blutdruck ausüben. Man kann zwar etwas messen (EEG, evozierte Potentiale, Oesophagusbewegungen, Hormone), aber ob diese Parameter dann die Anästhesietiefe ausdrücken, bleibt spekulativ - die Pioniere hoffen es natürlich immer, wenn eine neue Parameter introduziert wird. Am ehesten habe ich Vertrauen in die isolated forearm technique, wo ein Unterarm durch Blutsperre unrelaxiert gehalten wird, aber diese Technik verbietet sich gerade in der WA, weil die Relaxation im ganzen Körper für diese Methode vorausgesetzt wird.

Wenn schon mit Mitteln wie Clonidin oder beta-Blockern die hämodynamische Antwort auf die Operation manipuliert wird, scheinen sich auch diese Parameter zu verlieren, zumindest schwächt sich die Antwort ab, ungeachtet der Tatsache, daß dadurch auch eine potenzierende Wirkung auf die Anästhesie stattfindet. Tatsächlich gründet der sparsame Verbrauch von Fentanyl vor allem auf die Sicherheit, die durch Befragung der Patienten nach der Anästhesie gewonnen wurde. Maßgeblich für die weitere Gabe von Fentanyl (oder anderen Opioiden) ist ein Anstieg der Herzfrequenz, wenn zugleich die anderen Parameter (Relaxation, Lachgas-konzentration und durch Clonidin therapierbare Hypertonie) überprüft wurden. Diese Präferenz für Clonidin bei der Hypertonie und für Fentanyl bei der Frequenzerhöhung unterliegt jedoch einem erheblichen Spielraum.

Wichtig ist, daß die Nebenwirkungen der normaldosierten Fentanylgabe bzw. der volatilen Anästhetika mit der WA wesentlich begrenzt werden können: Es gibt sehr wenig Übelkeit und der Patient ist kurz nach Beendigung der Operation gut ansprechbar (gibt Zimmernummer und Datum an). Die Extubation erfolgt ohne auf die Ansprechbarkeit zu warten, wenn die Relaxation sicher keinen Überhang zeigt, denn der Patient würde sich sonst unangenehm an den Tubus erinnern können, kurz nachdem das Lachgas abgestellt wurde.

Erstaunlicherweise sind diese Patienten in der Regel direkt nach dem Aufwachen schmerzfrei, oft besser analgesiert als konventionell anästhesierte Patienten, wenn diese (endlich) ansprechbar werden. Es sind ganz offensichtlich in der WA auch andere Faktoren für die Analgesie verantwortlich als nur die Opioide. Diese Beobachtung führte zur Hypothese der "endogen aktivierten Faktoren". Wegen deren kurzer Halbwertszeit kann es sich hier wohl kaum nur um Endorphine handeln. Die analgetische Wirkung von gegebenem Clonidin darf aber auch nicht außer acht gelassen werden.

F. Prämedikation

Es ist eine alte Beobachtung, daß je nervöser der Patient ist, umso mehr Anästhesie benötigt wird. Zwar ist es eine Frage, wie sehr der hyperadrenerge Zustand des nervösen Patienten zu einer zerebralen Beeinflussung und wie sehr zu einer Parametermanipulation führt, denn die Herzfrequenz ist das klinische Maß Nummer 1 für die Steuerung der Anästhetika.

Der einzige Patient in den vielen letzten Jahren, der eine klare intraoperative "awareness" bei einer WA aufwies, war eine Frau, die unprämediziert (weil fehlgeleitet) und nervös zu einer kleineren Operation kam und entgegen früheren Absprachen doch eine generelle Anästhesie verlangte. Dies war für mich die Bestätigung für die Daseinsberechtigung der Prämedikation.

Mit dem Angriff auf die Prämedikation für Patienten, die ambulant operiert werden sollen, wird es wahrscheinlich nötig sein, diese Kenntnisse neu zu erfinden. Ich bin jeden-falls nicht bereit, auf die Prämedikation zu verzichten, damit der Patient schneller nach Hause kann. Mit einer kurzwirkenden Substanz wie Midazolam dürfte dies auch nicht notwendig sein.

Seit wir Midazolam (ohne Kombination mit Atropin oder Phenothiazinen) als Prämedikationsmittel verwenden, vergehen Jahre bis wir mit der Regionalanästhesie oder dem Venenzugang eine vasovagale Reaktion erleben; dies war früher ein regelmässig eintretendes Ereignis. Es scheint die anxiolytische Wirkung von Midazolam zu bestätigen. Erstaunlicherweise zeigt sich die Mehrheit der Patienten wenig oder nicht beeindruckt von der sedativen Wirkung, und dann verraten manche von Ihnen, daß dieser Zustand doch mit einer Amnesie verbunden sein kann. Dies wird z.B. ersichtlich bei der Regionalanästhesie mit der den Anästhesisten störenden Bemerkung, "letztes mal hat es nicht weh getan" (an die letzte Operation hat der Patient überhaupt keine Erinnerung). Wann diese Amnesie vorkommt, kann man nicht mit Sicherheit voraussagen, nur einen Hinweis habe ich: wird der Patient in Ruhe gelassen und schläft dabei ein, wird er wahrscheinlich eine Amnesie aufweisen.

Leider hatten wir nicht die Option, mit der Prämedikation Anxiolyse machen zu wollen und haben daraufhin Midazolam verwendet. Die Reihefolge war ungekehrt, wie so oft in der Medizin: durch die Verwendung von Midazolam haben wir die Bedeutung der Anxiolyse in der operativen Medizin eingesehen. Mit der Verwendung von Bromazepam am Vorabend war es jedenfalls anders. Als Benzodiazepin ist dies ein starkes Anxiolytikum mit verhältnismässig schwacher sedierender Eigenschaft. Es hat sich als Partialantagonist auf den Benzodiazepin-Rezeptor erwiesen, was dem Mittel eine größere Sicherheit verleiht als andere, eher typische Benzodiazepin-Agonisten. Als Schlafmittel ist das Bromazepam natürlich besonders gut, wenn der Patient die letzten Nächte vor der Operation schlecht geschlafen hat, und dies ist bei elektiven Eingriffen oft der Fall. Umgekehrt wurden sehr schlechte Erfahrungen mit einem langdauernden Benzodiazepin mit eher stark sedierenden Wirkungen, dem Chlorazepat, gemacht [4].

Außer bei extrem alten oder respiratorisch schwerkranken Patienten verwende ich bei Erwachsenen (ohne Gewichtskorrelation) 6 mg Bromazepam p.o. am Vorabend und 7,5 mg Midazolam p.o. 15-30 Minuten vor Abruf. Bei Kindern haben wir einen noch größeren Vorteil gehabt durch den Übergang zu Midazolam [5]. Hier benötigt man umso mehr von dem Medikament in mg/kg, je jünger das Kind ist. Dies ist ähnlich mit dem Bedarf an Etomidat aber umgekehrt zum Opioidbedarf bei Kleinkindern.

G. Intubationsanästhesie und Co-Induktion

Die Bedeutung der Anxiolyse in der Anästhesie zusammen mit der Erkenntnis, das der Patient nicht als "bewußtlos" gelten darf, führte zu der Erkenntnis, daß ein Anxiolytikum als Teil der generellen Anästhesie (z.B. neben der Musik aus dem Kopfhörer) verstanden werden kann. Diese Schlußfolgerung wird zwar nur von wenigen Anästhesisten geteilt, deckt sich aber mit der Entdeckung der Koinduktion, bei der es einen starken Synergismus zwischen Midazolam und Thiopental therapeutisch gibt [6,7]. Dies kann dazu ausgenützt werden, einerseits Midazolam in der Anästhesie zu verwenden und andererseits die Nebenwirkungen von Thiopental auf ein Minimum zu reduzieren [8].

Zur Zeit beschränke ich diese Koinduktion auf eine zu erwartende Operationsdauer von mindestens einer Stunde, da sonst die Sedation durch Midazolam das postoperative Aufwachen stören kann. Dafür sehe ich gespannt der Introduktion eines neuen, kürzer wirkenden Benzodiazepins entgegen, welches ich ebenfalls in Koinduktion einsetzen möchte mit den erwähnten Vorteilen auch für kurze Operationen (gegenwärtig wieder aufgegeben). Die alleinige Anwendung eines Benzodiazepins ohne sonstiges Hypnotikum zur Einleitung (vor allem zur Intubation) scheint nur möglich in Kombination mit einer höheren Dosis eines Opioids als es mir wünschenswert erscheint. Die Sicherheit der Benzodiazepine bei alleiniger Verwendung erklärt sich eben durch einen ceiling-effect, die keine ausreichende ZNS-Depression für Anästhesiezwecke erlaubt - dafür ist eben eine Kombination erforderlich und auch sinnvoll.
 
 

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