Wikingeranästhesie

Teil 2

B. Ventilation und Kapnographie

Es ist eine alte Beobachtung, daß der Bedarf an Anästhetika mit steigendem pCO2 auch steigt. Die Bedeutung dieser Beobachtung soll nicht überbewertet und der Patient sicher nicht extremer Hyperventilation ausgesetzt werden - aber jedenfalls auch keiner Hypoventilation. Dies kann man wohl als allgemeine Voraussetzung für jede Anästhesie nehmen.

Für viel interessanter halte ich die Beobachtung, daß die Unterbrechung einer rhythmischen Beatmung mit einer "Weckwirkung" verbunden zu sein scheint. Diese Wirkung konnte ich wiederholt (aber nicht konstant) am Ende der Operation provozieren, allerdings habe ich das Phänomen nicht systematisch untersucht. Dagegen könnte gehalten werden, daß zu diesem Zeitpunkt sowieso eine Beendigung der Anästhesie angestrebt wird und somit die Wirkungen der pharmakologischen Substanzen zu Ende gehen. Sieht man jedoch was verwendet wurde, und berücksichtigt man, daß ich zu Demonstrationszwecken das Lachgas in dieser Phase immer unverändert gelassen habe, dann könnte doch etwas an meiner Behauptung sein.

Die erste Erklärung des möglichen Wirkmechanismus klingt allerdings fast exotisch: rhythmische Geräusche und Bewe-gungen unterstützen eine Trance. Verschiedene Sekten verwenden sie um diesen Zustand zu provozieren und aufrechtzuerhalten. Auch für die Induktion einer Hypnose werden Wiederholungseffekte verwendet. Ob den akustischen Effekten unserer alten Beatmungsgeräte diese Bedeutung zukommt, oder aber ob die passive Bewegung der Beatmung die größere Rolle spielt, weiß ich nicht. Eine weitere Weckwirkung (die allerdings später einzutreten scheint) kann die muskuläre Aktivität durch die eigene Atmung spielen, wenn diese anfängt, sowie andere voluntäre Bewegungen (s. C. Relaxation). Eine Bedeutung dieser Faktoren kann aber nur einer "flachen" Anästhesie beigemessen werden.

Die Kapnographie sollte nicht nur als Monitoring der Ven-tilation verstanden werden. Nach dem Operationsbeginn steigt die CO2-Produktion normalerweise an, zwangsläufig als Ausdruck eines gesteigerten zerebralen Metabolismus. Dieser Anstieg findet übrigens auch unter Verwendung von volatilen Anästhetika statt und könnte als eine der vielen Bestätigungen gesehen werden, daß der anästhesierte Patient keiner "mentalen Paralyse" unterliegt, oder wie auch immer man den erwünschten Zustand bezeichnen möchte.

C. Relaxation

Daß eine komplette Relaxation eine Potenzierung der Anästhesie verursacht, hingegen voluntäre Bewegungen einen "Weckeffekt" ausüben, betrachte ich schon lange als klinisch erwiesen [1]. Die wissenschaftliche Unterstützung für diese Behauptung ist allerdings dürftig, wie so oft wenn man mit schlechter Methodik und noch schlechteren Kon-klusionen arbeitet. Was mich letzlich davon überzeugt hat war folgende Beobachtung von 1983:
 

Unter Verwendung des damals neuen Vecuroniums in die WA erlebte ich immer wieder, daß eine Ergänzung für die Anästhesie notwendig wurde, in etwa gleichzeitig mit der Feststellung eines fehlenden Relaxationsbedarfs. Dies war bedingt durch die kurze Wirkdauer bei gleichzeitig fehlendem neuromuskulären Monitoring. Nachdem ich anfangs Fentanyl und gleich anschließend Vecuronium als Repetitionsdosis gegeben hatte, unterlag ich irgendwann der Versuchung, die Reihefolge zu ändern - in der Praxis bedeutete dies, daß Fentanyl doch nicht gegeben werden mußte, wenn der Patient eine Minute nach der Repetitionsdosis des Muskelrelaxans Herzfrequenz und Blutdruck wieder normalisierte. Dies hatte ich zwar erlebt mit Succinylcholin bei kurzen Anästhesien, aber die Änderungen in der Herzfrequenz nach dem depolarisierenden Relaxans konnten als cholinerge Wirkung erklärt werden.

Interessant nach diesem Erlebnis war auch die Tatsache, daß der Patient nicht langsam oder zu einem bestimmten Zeitpunkt infolge der pharmakologischen Erwartungen wacher wurde, sondern durch irgend einen Reiz, dann aber (vermutlich durch die jetzt mögliche muskuläre Bewegung verstärkt) schnell eine unangenehme Reaktion verspürte, begleitet von Puls- und Blutdruckanstieg. Bei einem Patienten gab es zudem Erinnerungen an akustische Erlebnisse ("Werkzeuggeräuche") nach dem Eingriff.


Als absolute Voraussetzung für die WA betrachte ich hier die ausreichend tiefe und kontinuierlich erhaltene Muskelrelaxation. Dies wiederum stellt die Verwendung eines neuromuskulären Tracing (NMT) als fast unabdingbar dar. Die Tiefe der Relaxation erfordert meistens, daß die erste tastbare Reaktion bei der train-of-four [TOF] unterdrückt wird. Um das Zwerchfell bei Baucheingriffen zu paralysieren, muß man gelegentlich noch tiefer gehen, indem man sich am posttetanic count [PTC] orientiert. Mit großer Bedauern stelle ich fest, daß viele Anästhesisten keine Ahnung haben von der Schmerzstimulation durch den NMT haben und diesen ohne Kontrolle auf hoher Stärke einfach mitlaufen lassen. Nur wer seine eigene Schmerzschwelle am wachen Leibe untersucht hat dürfte das Erlaubnis besitzen, weiterhin mit NMT zu arbeiten!

Es ist nicht erlaubt, sich an den muskulären Bewegungen für den Anästhesiebedarf zu orientieren, auch nicht bei einer durch Blutsperre unrelaxierten Extremität (z.B. isolated forearm oder eben zu späte Relaxation), weil dies Signale an die Formatio reticularis schickt, die mit einer Weckreaktion verbunden sind. Können wir dann sicher sein, daß der Patient schläft? Eben nicht! Daher soll der anästhesierte Patient entsprechend respektvoll behandelt und vor erschreckenden Botschaften geschützt werden. Das Problem der s.g. awareness (Wachheit) wird anderswo ausgiebig diskutiert.

Das Ziel der Relaxation ist ein unrealistisches: schnellst-mögliche Wirkung (für die Intubation), tiefe Relaxation (als Teil der Anästhesie zu verstehen, auch wenn der Operateur es nicht benötigt) und gute Steuerbarkeit (am Ende der Operation also schnell wieder weg). Andererseits haben wir ökonomische Verpflichtungen, die das Thema Relaxantien und deren Antagonisten berühren. Es erscheinen bald neue Relaxantien, die dem erwähnten Ziel der Relaxation, für die WA besonders wichtig, näher kommen. Succinylcholin wird kaum verwendet (nur für Schnellintubationen, die wohl auch seltener werden könnten als gegenwärtig praktiziert wird). Damit sind schon viele der schweren (wenn auch seltenen) medikamentenbedingten Nebenwirkungen der Anästhesie vermieden worden. Leider ist es in der Regel immer noch erforderlich, die nicht-depolarisierenden Relaxantien mit Neostigmin zu antagonisieren, Cistracurium und Vecuronium mit 0,5-1,5 mg, Pancuronium mit 2,5 mg. Hiermit kommt die ab 1 mg Neostigmin erforderliche Beigabe von Atropin mit seinen zentral-anticholinergen Nebenwirkungen zum Tragen [s. ZAS]. Dies wird dafür in anderen Ländern durch geeigneter Substanzen (Glycopyrrolat oder Brom-Methyl-Atropin) ersetzt. In einer Zukunft werden auch die mit der Antagonisation verbundende Nebenwirkungen durch besseren Muskelrelaxantien zurückgehen können.

D. Hämodynamische Stabilität

Ein weiteres Credo für die WA ist, daß eine hämodynamische Stabilität einen direkten oder (im Sinne der sympathiko-adrenergen Stimulation) indirekten Einfluß auf die zerebrale Aktivität ausübt. Ähnlich der kompletten Relaxation, wo der Patient nicht motorisch reagieren kann, wird hier ein Parameter für die Anästhesie direkt beeinflußt. Kann man sich denn überhaupt erlauben, einerseits Herzfrequenz und Blutdruck als Ausdruck des Anästhesieniveaus zu verwenden, andererseits gerade diese Parameter direkt zu beeinflussen? Dieses Problem wurde genau diskutiert in meinem vorher erwähnten Buch. Zwei Substanzgruppen sollen in dieser Verbindung diskutiert werden: Die alpha2-Ago-nisten und die beta-Blocker.

Das Clonidin, ein alpha2-Agonist, setzte ich zuerst als Antihypertonikum seit 1983 sehr häufig ein. Viele der älteren Patienten entwickelten (in der damals s.g. "Neuroleptanästhesie") einen erhöhten Blutdruck ohne Erhöhung der Herzfrequenz. Es war längst bekannt, daß diese Hypertonie selten auf erhöhte Fentanylgabe reagiert, und somit war es eigentlich kein Wunder, daß mehr Clonidin weniger Fentanyl bedeuten würde. Der scheinbare Widerspruch in der angesprochenen "Parametermanipulation" erschwerte eine Diskussion über den Sinn der bewußten Verwendung dieser Substanz, um Fentanyl zu sparen. Dies änderte sich mit dem Nachweis (1984), daß Clonidin eine echte analgetische Wirksamkeit aufweist. Seit 1986 verwende ich das Clonidin als ergänzendes Analgetikum in der periduralen Analgesie [3] und nenne es auch ein Analgetikum für die Anästhesie. Dadurch war der Weg gebahnt, durch dieses Medikament eine weitere Reduktion des Fentanylbedarfs anzustreben.

Clonidin hat einen anderen Angriffspunkt als die Opioide und wirkt überwiegend auf den tiefen, sympathicoadrenergen Schmerz, z.B. den durch eine Blutsperre veranlaßten Tourniquet-Schmerz. Es kann und soll die Opioide nicht ersetzen, aber ergänzen und dadurch deren Dosis reduzieren. Der Angriffsort ist sowohl zentral als auch peripher. Die zentral dämpfende Wirkung wird besonders bei deliranten Patienten ausgenützt, bei denen oft ein zerebraler "sympathicoadrenerger Sturm" herrscht. Als Nebenwirkung wird auch die Müdigkeit registriert. Das Medikament ist allerdings schlecht steuerbar; mit einer Wirkdauer von etwa 8 Stunden verursacht es oft eine initiale Blutdruckerhöhung bis zum Wirkeintritt nach 10 Minuten, aber es ist gegenwärtig die einzige und zudem eine altbekannte Substanz in der Gruppe (mehrere neue alpha2-Agonisten sind aber unterwegs). Es kommt natürlich vor, daß operationsbedingt eine Hypotonie nach der Verwendung von Clonidin auftritt. Entlastend hierbei wirkt, daß die peripheren alpha-Rezeptoren voll stimuliert werden können und somit der Verwendung von z.B. Noradrenalin nichts im Wege steht.

Ich verwende Clonidin unter Berücksichtigung von Druck und Puls, indem ich bei einem normalgewichtigen Erwachsenen eine Dosis von 75-300 ug geben möchte. Nur bei vorbestehender Hypertonie wird mit dieser Gabe bereits präoperativ angefangen. Bei etwa einem Drittel bleibt der Patient kreislaufstabil bei niedriger Fentanyl-Dosis, und es gibt dann keinen Platz für Clonidin. Unter Berücksichtigung der postoperativen Analgesie ist es mir wohler, wenn ich bei schmerzhaften Eingriffen Clonidin geben kann.

Meine Verwendung von beta-Blockern geht auf die Struma-Operationen zurück, die ich früher als relative "Kontraindikation" für die WA angesehen hatte. Einerseits durch den ständigen Druck im Kehlkopfbereich, wo Reflexe stimuliert werden, die schwer mit Anästhetika unterdrückt werden können, andererseits durch plötzliche Hormonfreisetzung vom Druck auf autonome Adenome, kommt es bei diesen Operationen besonders häufig zu plötzlichem Ansteigen der Herzfrequenz. Diese verursachten in Halothan-Anästhesie oft bedrohliche Arrhythmien, wo die beta-Blockade eine wirksame Therapie geboten hatte. Und irgendwann war es dann so weit, daß ich dies gleich als Prophylaxe einsetzte und versuchte, auf die volatilen Anästhetika auch hier zu verzichten. Seither habe ich keine volatilen Anästhetika bei Erwachsenen verwendet, außer bei Patienten die weniger als 70% Lachgas vertragen konnten oder bei Sectiones.

Gerade bei Strumaoperationen kann es vorkommen, daß sowohl beta-Blocker als auch Clonidin eingesetzt werden. Ansonsten wird Clonidin der Vorrang zur Anästhesie gegeben (weil zerebral wirksamer als die beta-Blockade), während die beta-Blocker überwiegend gegen Herzrhythmusstörungen und Tachycardien eingesetzt werden. Wenn es auch teuer werden darf (Patienten mit hohem Risiko), liefert der kurzwirkende beta-Blocker Esmolol eine gut steuerbare Möglichkeit, und diese Substanz scheint auch zerebral größeren Einfluß auszuüben als die anderen beta-Blocker.
 
 

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